16.06.2023

Der Vergabesenat hat heute unter Leitung der Vorsitzenden Richterin am Oberlandesgericht Dr. Christine Maimann das Vergabeverfahren über die Bereitstellung von Schnelladeinfrastruktur auf bewirtschafteten Rastanlagen an Bundesautobahnen gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b) und Abs. 2 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union ausgesetzt.

In den Jahren 1996 bis 1998 schloss die Antragsgegnerin ohne vorangegangene Ausschreibung (inhouse) mit einer zu 100 % in ihrem Anteilsbesitz stehenden Gesellschaft eine Vielzahl von Konzessionsverträgen über die Bewirtschaftung von Tankstellen und Raststätten an den Bundesautobahnen. In den Folgejahren wurde die Gesellschaft privatisiert und in die Beigeladenen umbenannt. Da die Antragsgegnerin gemäß Schnelladegesetz vom 25. Juni 2021 verpflichtet ist, dem Inhaber einer vorgenannten Konzession die eigenwirtschaftliche Übernahme von Errichtung, Unterhaltung und Betrieb der an diesem Standort geplanten Schnellladepunkte anzubieten, schloss die Antragsgegnerin mit den Beigeladenen eine entsprechende Ergänzungsvereinbarung ohne Ausschreibung und machte diese Vergabe bekannt.

Die Antragsstellerinnen, die jeweils Ladeinfrastrukturen für Elektrofahrzeuge betreiben, beantragten daraufhin die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. Zu dessen Begründung führten sie aus, der Abschluss der Ergänzungsvereinbarung ohne vorherige EU-weite Bekanntmachung sei vergaberechtswidrig und die geschlossene Ergänzungsvereinbarung von Anfang an unwirksam. Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag der Antragstellerinnen mit Beschluss vom 15. Juni 2022 zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Vergabekammer unter anderem aus, die Ergänzung der ursprünglichen Konzessionsverträge sei eine nach§ 132 GWB zulässige Auftragsänderung während der Vertragslaufzeit und daher nicht ausschreibungspflichtig. Jedenfalls sei die Notwendigkeit einer Schnellladeinfrastruktur im Jahr 1998 nicht vorhersehbar gewesen. Gegen diese Entscheidung haben die Antragstellerinnen fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt.

Der Vergabesenat ist der Auffassung, vor Entscheidung über die sofortige Beschwerde müsse geklärt werden, ob eine Ergänzung der Konzessionsverträge ohne Ausschreibung in Fällen wie dem vorliegenden vergaberechtsgemäß und mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Er hat daher dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Vorlagefrage gestellt:

"Ist Art. 72 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 2014/24/EU dahingehend auszulegen, dass in seinen Anwendungsbereich auch solche öffentlichen Aufträge fallen, die zuvor außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2014/24/EU an eine Inhouse-Einrichtung vergeben worden sind, jedoch die Voraussetzungen der Inhouse-Vergabe im Zeitpunkt der Vertragsänderung nicht mehr vorliegen".

 

Infobox

Art. 267 AEUV

Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung

[…]

b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen.

Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen. 

Art. 72 Richtlinie 2014/24/EU Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit

(1) Aufträge und Rahmenvereinbarungen können in den folgenden Fällen ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens im Einklang mit dieser Richtlinie geändert werden:

[…]

c) wenn alle der folgenden Bedingungen erfüllt sind:

i)   Die Änderung wurde erforderlich aufgrund von Umständen, die ein seiner Sorgfaltspflicht nachkommender öffentlicher Auftraggeber nicht vorhersehen konnte;

ii) der Gesamtcharakters des Auftrags verändert sich aufgrund der Änderung nicht;

iii) eine etwaige Preiserhöhung beträgt nicht mehr als 50 % des Werts des ursprünglichen Auftrags oder der ursprünglichen Rahmenvereinbarung. Werden mehrere aufeinander folgende Änderungen vorgenommen, so gilt diese Beschränkung für den Wert jeder einzelnen Änderung. Solche aufeinander folgenden Änderungen dürfen nicht mit dem Ziel vorgenommen werden, diese Richtlinie zu umgehen;

[…] 

§ 132 GWB Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit

(1) 1Wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit erfordern ein neues Vergabeverfahren. 2Wesentlich sind Änderungen, die dazu führen, dass sich der öffentliche Auftrag erheblich von dem ursprünglich vergebenen öffentlichen Auftrag unterscheidet. […]

(2) 1Unbeschadet des Absatzes 1 ist die Änderung eines öffentlichen Auftrags ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens zulässig, wenn

[…]

3. die Änderung aufgrund von Umständen erforderlich            geworden ist, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen        seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte, und sich        aufgrund der Änderung der Gesamtcharakter des Auftrags      nicht verändert […].

          2In den Fällen des Satzes 1 Nummer 2 und 3 darf der    Preis um nicht mehr als 50 Prozent des Wertes des                  ursprünglichen Auftrags erhöht werden. 

 

Düsseldorf, den 16. Juni 2023

Christina Klein Reesink
Pressedezernentin
Oberlandesgericht Düsseldorf

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